Eine Frau untersucht etwas im Labor

Forschungsdaten vernetzen – für optimale Therapien

Veröffentlicht am 11.02.2022

Sebastian C. Semler ist Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. (TMF). Zudem leitet er die Koordinationsstelle der Medizininformatik-Initiative (MII). Gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) vernetzt die MII Routinedaten aus der Patientenversorgung für die medizinische Forschung. Im Gespräch erläutert Semler die Chancen personalisierter Therapien und optimierter Präventionsmöglichkeiten, die dank der MII verwirklicht werden können. Zudem gibt er Einblicke in die Architektur des Datenaustauschs, der bei höchsten Datenschutzstandards medizinischen Fortschritt ermöglicht.

Experteninterview mit
Sebastian C. Semler
Sebastian C. Semler
Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. (TMF)

Medizinische Forschung im digitalen Zeitalter gestalten

 

Die Medizininformatik-Initiative geht 2023 in die nächste Förderphase über. Worum geht es aktuell konkret?

Zusammengefasst hat die Medizininformatik-Initiative die Aufgabe, Routinedaten aus der Patientenversorgung bundesweit digital zu vernetzen und für die medizinische Forschung verfügbar zu machen. Dadurch soll die Medizin Krankheiten schneller und effektiver behandeln können. Dafür fördert das BMBF die MII zunächst bis 2022 mit über 200 Millionen Euro.

Und welche Funktion übernimmt die TMF?

Wir als TMF leiten die Koordinationsstelle der MII, die wir gemeinsam mit dem Medizinischen Fakultätentag (MFT) und dem Verband der Universitätsklinika Deutschlands e. V. (VUD) betreiben. Die TMF steht für Forschung, Vernetzung und Digitalisierung in der Medizin. Sie ist die Dachorganisation der medizinischen Verbundforschung in Deutschland für Digitalisierungsfragen, im Rahmen derer Spitzenforscherinnen und -forscher Wissen austauschen, gemeinsam Ideen und Konzepte entwickeln und die Zukunft der medizinischen Forschung im digitalen Zeitalter gestalten.

Die MII umfasst verschiedene Konsortien. Können Sie uns einen kurzen Überblick geben?

In den vier Konsortien DIFUTURE, HiGHmed, MIRACUM und SMITH arbeiten alle Einrichtungen der Universitätsmedizin Deutschlands gemeinsam mit weiteren Forschungseinrichtungen, Unternehmen, Krankenkassen und Personen aus Patientenvertretungen. Die Konsortien haben die Aufgabe, Datenintegrationszentren an den Universitätskliniken und Partnereinrichtungen aufzubauen. In diesen Zentren werden die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für einen standortübergreifenden Datenaustausch zwischen Krankenversorgung und medizinischer Forschung geschaffen. Darüber hinaus entwickeln sie IT-Lösungen für konkrete Anwendungsfälle, zum Beispiel in den Bereichen Multiple Sklerose, Infektionskontrolle und Intensivmedizin.

Die Medizininformatik-Initiative ist das Herzstück der datenbasierten Gesundheitsforschung in Deutschland.

Wie kommt die Initiative aus Ihrer Sicht voran? Welche Erfolge lassen sich bisher verzeichnen?

Die MII hat sich als relevanter Bestandteil der Gesundheitsdatenarchitektur und Digitalstrategie im deutschen Gesundheitswesen etabliert. Sie ist das Herzstück der datenbasierten Gesundheitsforschung in Deutschland. In der ersten Förderphase der MII (2018–2022) entstand ein deutschlandweiter Mustertext zur Patienteneinwilligung – der sogenannte Broad Consent –, den alle Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder akzeptiert haben. Wir konnten bundesweit an den universitätsmedizinischen Standorten Datenintegrationszentren aufbauen. Und gemeinsam mit den Justiziariaten jener Standorte stimmten wir ein Vertragswerk ab, das die Nutzung von Patientendaten, Biomaterialien sowie von Analysemethoden und -routinen im Rahmen der MII regelt. Zudem entstand ein standortübergreifend harmonisierter Kerndatensatz. Dieser beschreibt, welche Datensätze die Datenintegrationszentren der MII für alle stationären Patientendaten mindestens vorhalten sollen. Weitere Erfolge der MII: Wir verwenden internationale Standards zum Datenaustausch, haben in Deutschland beispielsweise die Terminologie SNOMED CT eingeführt und FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) sowie LOINC (Logical Observation Identifiers Names and Codes) vorangebracht.

Welche Aufgabe erfüllen die Datenintegrationszentren?

Das Datenintegrationszentrum (DIZ) ist meist eine Einrichtung im Klinikum und generell eng mit den klinischen Rechenzentren verbunden – womit eine enge Anbindung an die Systeme der Krankenversorgung gewährleistet ist. Das DIZ übernimmt Daten aus den unterschiedlichen datenliefernden Systemen, führt sie zusammen und bereitet sie auf. Dabei gilt es auch, die Qualität und den Schutz jener Daten sicherzustellen. Sind die Daten aufbereitet, werden sie der medizinischen Forschung für die Nutzung bereitgestellt. Die Forschungsergebnisse wiederum führt das DIZ am Ende in die Versorgung zurück.  

Das klingt nach großem Fortschrittspotenzial …

In der Tat. Die DIZ ermöglichen eine standortübergreifende und datenschutzgerechte Nutzung von Routinedaten aus der Gesundheitsversorgung für die medizinische Forschung. Durch diese Zentren können medizinische Daten erfasst, zusammengeführt und ausgetauscht werden, sodass sie in der Forschung, aber auch in der Versorgung optimal genutzt werden können. Am Ende soll die große Datenbasis zu personalisierten Therapien und besseren Präventionsmöglichkeiten führen. Diagnosen könnten schneller und präziser gestellt, Doppeluntersuchungen vermieden oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen verhindert werden. Die DIZ werden als dauerhafte, nachhaltige Infrastruktur erhalten bleiben und so die digitale, zielgerichtete Versorgung verbessern. Und sie werden die föderale Forschungslandschaft für die Zukunft fit machen.

Welche technischen Voraussetzungen müssen für erfolgreiche Datenintegrationszentren geschaffen werden?

Die Daten in der Patientenversorgung liegen in sehr heterogener Form vor. Sie stammen aus unterschiedlichen klinischen Anwendungssystemen, sind zum Teil unstrukturiert und unterscheiden sich in Umfang sowie Datenformaten und Dateninhalten. Entsprechend stehen die Standorte der Datenintegrationszentren nicht nur vor der Herausforderung, rein technisch Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammenzuführen. Sie müssen diese auch so weit normieren, dass sie mit vertretbarem Aufwand sowie beurteilbarer Datenqualität auswertbar und damit für unterschiedliche medizinische Forschungsfragestellungen erschließbar werden. Die entsprechenden Festlegungen müssen in der MII standort- und konsortienübergreifend harmonisiert werden, um bundesweit eine sinnvolle Nutzung der Daten in den Datenintegrationszentren zu ermöglichen.

Welche Rolle spielen Vertrauensstellen dabei?

Grundsätzlich verbleiben die Daten in den DIZ der behandelnden Standorte und werden nur in kleinen Ausschnitten für die jeweilige Nutzungsanfrage von Forschenden kontrolliert zusammengeführt. Die Infrastrukturen, die diese Zusammenführung und Auswertung unterstützen, befinden sich derzeit im Aufbau. Eine wichtige Komponente bei diesen Infrastrukturen sind Vertrauensstellen. Eine Vertrauensstelle ist vom DIZ unabhängig innerhalb oder außerhalb der jeweiligen Einrichtung angesiedelt und schützt davor, dass ein Bezug zwischen den medizinischen Daten und den betroffenen Patienten und Patientinnen hergestellt wird. Denn deren Identitäten dürfen für die Forschenden nicht einsehbar sein. Hierzu übernimmt die Vertrauensstelle Aufgaben des Pseudonymmanagements: Sie erstellt Pseudonyme und verwaltet die Zuordnung von Pseudonymen zu den Patienten und Patientinnen. Auf die medizinischen Daten der Behandelten hat die Vertrauensstelle dagegen keinen Zugriff. 

Welchen Stellenwert nimmt das Thema Datenschutz denn insgesamt in der MII ein?

Einen sehr hohen. Alle identifizierenden Daten werden durch eine Kombination von Zeichen ersetzt, das heißt codiert. Dadurch ist kein einfacher Rückschluss auf eine Person möglich. Die codierten Daten werden ausschließlich zu Forschungszwecken von Forschungsinstitutionen, Universitäten oder forschenden Unternehmen verwendet. Voraussetzung ist, dass diese sich an das EU-Datenschutzrecht halten. Ob die Daten für ein Forschungsvorhaben genutzt werden können, entscheiden eine unabhängige Ethikkommission und ein Fachgremium an der jeweiligen Klinik.

In der nächsten Förderphase ab 2023 sollen verstärkt auch regionale und ambulante Versorgungseinrichtungen in die MII-Infrastruktur eingebunden werden.

Welche Herausforderungen sind noch zu bewältigen?

Vor Kurzem wurde das Deutsche Forschungsdatenportal für Gesundheit veröffentlicht. Mit diesem Portal sollen Forschende mit einer Anfrage harmonisierte Daten aus allen deutschen Universitätskliniken in einem einheitlichen Rechtsrahmen für medizinische Forschungszwecke nutzen können. Bürgerinnen und Bürger können sich außerdem über ein Register laufend darüber informieren, welche Forschungsprojekte mit Patientendaten durchgeführt werden. Mit dem Forschungsdatenportal hat die MII ein zentrales Such- und Antragsportal für Forschende entwickelt, das generisch für den Datenbestand aller Unikliniken genutzt und auch darüber hinaus ausgebaut werden kann. Durch die MII ist das Fundament für eine dezentrale Infrastruktur im deutschen Gesundheitswesen bereits gelegt. In der nächsten Förderphase ab 2023 sollen verstärkt auch regionale und ambulante Versorgungseinrichtungen in die MII-Infrastruktur eingebunden werden. Außerdem wird sich die MII in der nächsten Förderphase mit weiteren nationalen Initiativen wie dem Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) und der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) enger vernetzen.

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